JNG #227: Problem- vs. Systemdenken: Welche Methode passt zu dir?

 Lesezeit: 3,5 Minuten

Willkommen zu Ausgabe #227 des Newsletters!

Kleiner Reminder: Einige von euch hatten eine neue (kostengünstige) Produktidee, und ich überlege gerade, ob ich damit in Serie gehe. Es geht um Hilfsmittel für eine überzeugende Argumentation und »nicht so lange überlegen müssen« in der Klausur. Die Umfrage dazu geht super fix und würde mir sehr bei der Entscheidungsfindung helfen. Danke schon mal. :)

… jedoch zurück zum Newsletter.

Wenn du dir vorab einen Überblick über die Inhalte dieser Ausgabe verschaffen möchtest, lies am besten als Erstes die folgende Zusammenfassung.

TL;DR:

  • Bei der topischen Methode argumentierst du ausgehend vom Problem und machst gerade nicht das Gesetz zum Ausgangspunkt deiner Überlegungen.
  • Bei der systematischen Methode beantwortest du eine Rechtsfrage durch die Anwendung feststehender Denk- und Arbeitsschritte, die sich aus einem (Rechts-) System ergeben, sodass die Problemlösung praktisch vorhergesagt werden kann.
  • Topische und systematische Methode können bei Anwendung auf ein und denselben Fall zum gleichen, aber auch unterschiedlichen Ergebnissen führen.
  • Du musst dich nicht zwischen topischer und systematischer Argumentation entscheiden, sondern kannst beide Methoden miteinander kombinieren, indem du vom System aus denkst, am Ende jedoch eine normative Korrektur erwägst.


***


Wer nicht weiß, wonach er sucht, findet auch nichts. Der Begriff Systemverständnis ist seit jeher mystifiziert; eine allgemein anerkannte Definition existiert nicht. Wie aber willst du systematisch arbeiten oder – Thema dieses Beitrags – systematisch argumentieren, wenn du dir schon unter System nichts vorstellen kannst?

Ich bin davon überzeugt, dass ich dir systematisches Arbeiten am verständlichsten erklären kann, wenn du systematische Argumentation in Aktion siehst.

Die systematische Argumentation stellt einen Gegenentwurf zur sog. Topos-Argumentation dar (der wir uns unter anderem im Newsletter von letzter Woche bedient haben), bei der du ausgehend vom Problem denkst und argumentierst. Auf ebendieses Problem wendest du letztlich gesunden Menschenverstand und Gerechtigkeitssinn an. Das schließt natürlich die Nennung von und Arbeit mit passenden Rechtsnormen nicht aus; diese bilden bloß nicht die Basis deiner Argumentation. Wir bezeichnen diese Methode im Folgenden als Problemdenken oder Bottom-up-Approach.

Bei der systematischen Argumentation denkst du hingegen vom System aus. Der dahinterstehende Gedanke: Eine Rechtsfrage wird durch die Anwendung feststehender Denk- und Arbeitsschritte, die sich aus einem System ergeben, dergestalt beantwortet, dass die Problemlösung praktisch vorhergesagt werden kann (oder theoretisch auch von einem Computer erledigt werden könnte). Dabei stellst du also eine konkrete Rechtsfrage in einen größeren systematischen Zusammenhang, um allgemeine Regeln für ihre Beantwortung zu finden. Wir bezeichnen diese Methode im Folgenden als Systemdenken oder Top-down-Approach.

Bevor wir uns aber in der Theorie über die unterschiedlichen Ansätze verlieren, schlage ich vor, wir demonstrieren die beiden Methoden an einem kurzen Fall, dem die folgende Rechtsfrage zugrunde liegt: Ist die Verfügung über fremdes Eigentum zugunsten eines gutgläubigen Erwerbers ein rechtlich vorteilhaftes Geschäft im Sinne des § 107 BGB?

Fall: Der 17-jährige M leiht sich ohne Wissen seiner Eltern von seinem Freund F dessen Apple AirPods – Wert: 150,00 EUR – und veräußert sie anschließend zu ebendiesem Preis an den gutgläubigen (und volljährigen) D.

Sehen wir uns an, wie man diese Rechtsfrage mithilfe des Problemdenkens beantworten könnte.

Problemdenken:
De facto ist im Rahmen des § 107 BGB der rechtliche Nachteil zu prüfen, welcher entweder in dem Rechtsgeschäft selbst liegen oder derart mit eben jenem verknüpft sein kann, dass er denjenigen, welcher es vornimmt, trifft. Stets rechtlich nachteilig ist dabei die Verfügung über Gegenstände des eigenen Vermögens, insbesondere die Übertragung von Eigentum. Hätten die AirPods also im Eigentum des M gestanden, hätte er zu der Verfügung über selbige bzw. zu der Abgabe der Willenserklärung gegenüber D der Einwilligung seiner Eltern bedurft. Etwas anderes könnte vorliegend jedoch daraus folgen, dass es sich um ein für M neutrales Geschäft gehandelt hat. Derart neutrale Geschäfte, die für den Minderjährigen weder rechtlich vorteilhaft noch nachteilig sind, bedürfen nach dem Schutzzweck des § 107 BGB zu ihrer Wirksamkeit nicht der Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters. Gegen diese Ansicht wird zwar teilweise eingewandt, dass der gutgläubige Erwerber dadurch besser gestellt werden würde, als wenn der Minderjährige, seiner Vorstellung entsprechend, tatsächlich Eigentümer wäre, da die Übereignung dann nach § 108 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam wäre; es gebe keinen hinreichenden Grund, den Schutz des bisherigen Eigentümers hinter die nicht schutzwürdigen Erwerbsinteressen desjenigen zurücktreten zu lassen, der auch bei Richtigkeit seiner Vorstellung nicht zustimmungsfrei erwerben könne. Allerdings ignoriert diese Ansicht den Schutzzweck des § 107 BGB, der allein im Schutz des Minderjährigen besteht, welcher aber bei der Verfügung über fremdes Eigentums gerade keines Schutzes bedarf. Die Verfügung über fremdes Eigentum ist somit zustimmungsfrei nach § 107 BGB.

Stellen wir dieser Lösung nun das Systemdenken gegenüber.

Systemdenken:
Rechtlich vorteilhaft ist eine Willenserklärung, wenn sie nicht rechtlich nachteilig ist. Rechtlich nachteilig ist eine Willenserklärung, durch die entweder Pflichten des Minderjährigen begründet oder Rechte des Minderjährigen aufgehoben werden. Das Merkmal »durch« setzt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Willenserklärung und dem rechtlichen Nachteil voraus, zugleich aber auch, dass für die Beurteilung lediglich dieser Zusammenhang in Betracht kommt. 

Ob überhaupt ein Leihvertrag zwischen F und M zustande gekommen ist, ist beispielsweise nicht berücksichtigungsfähig.

Eine Verfügung über eine geliehene Sache, die dem Verleiher gegenüber wirksam ist, führt diesem gegenüber unmittelbar zur Herausgabepflicht aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB, ohne dass weitere Umstände hinzutreten müssten. Somit wird eine Pflicht des Minderjährigen begründet. Die Verfügung über fremdes Eigentum ist rechtlich nachteilig und führt zur schwebenden Unwirksamkeit im Sinne des § 108 Abs. 1 BGB.


Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass keine der beiden Methoden besser oder #MoreReal als die andere ist. Du musst dich auch nicht zwischen ihnen entscheiden. Nico etwa bevorzugt eine systematische Argumentation, erwägt jedoch stets eine normative Korrektur, nachdem er eine systematische Lösung gefunden hat. Mithilfe der simplen Frage »Ist das richtig so?« belässt er sich die Freiheit, wegen der Besonderheit eines bestimmten Problems eine extensive Auslegung oder eine teleologische Reduktion vorzunehmen.


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