JNG #195: The more you know, the more you know you don't know

Lesezeit: 4 Minuten

Willkommen zur 195. Ausgabe des Newsletters! 

Wenn du dir vorab einen Überblick über die Inhalte dieser Ausgabe verschaffen möchtest, lies am besten als Erstes die folgende Zusammenfassung.

TL;DR:

  • Bei dem Gefühl, nichts zu können, spielt dein Gehirn dir einen Streich.
  • Erst, wer richtig tief in ein Fach oder Thema eingestiegen ist, merkt, wie umfassend es ist.
  • Es ist extrem unwahrscheinlich, dass du dich bei der Beurteilung deiner Sach- und Methodenkompetenz überschätzt, womit die Wahrscheinlichkeit, dass du besser abschneidest als erhofft, größer ist als jene, hinter deinen Erwartungen zurückzubleiben.
  • Es existieren mehrere empirisch belegte Handlungsempfehlungen, mithilfe derer du dem Gefühl, nichts zu können, entgegenwirken kannst.

 

***

 

Wer schon einmal zum Examen angetreten ist oder kurz davor steht, kennt es: Je näher der Termin rückt, desto mehr hat man das Gefühl, nichts zu können. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich diese Aussage jede Woche mehrfach zu hören bekomme.

Ich schaue dann in betretene Gesichter, gezeichnet von einem Mix aus Ratlosigkeit, Angst und Verzweiflung. Und ich weiß, wie schwer es ist, diesen inneren Monolog loszuwerden: »Wer nichts kann, fällt durch. Und ich kann ja offenbar nichts.« Ich weiß es, weil ich vor nunmehr siebeneinhalb Jahren an exakt demselben Punkt stand.

Ist das Gefühl, nichts zu können, denn wirklich ein Indiz dafür, dass du durchfällst?

Um diese Frage zuverlässig beantworten zu können, werden wir in diesem Beitrag …

  • das Phänomen beschreiben (.),
  • sein Auftreten begründen (II.),
  • Risiken und Nebenwirkungen betrachten (III.) und
  • Handlungsempfehlungen aussprechen (IV.).
 
I. BESCHREIBUNG DES PHÄNOMENS

Bei dem Gefühl, nichts zu können, handelt es sich um eine von zahlreichen kognitiven Verzerrungen. Mit anderen Worten: Dein Gehirn spielt dir einen Streich; was du meinst, wahrzunehmen, entspricht nicht der Wirklichkeit. Es ist eine spezielle Ausprägung des Impostor-Syndroms.

Mit dem Impostor-Syndrom bist du sicher schon vertraut; statistisch gesehen leiden über fünf Milliarden Menschen darunter. Es kennzeichnet, dass du deine eigenen Kompetenzen (Sach- und Methodenkompetenz) unterschätzt, und geht häufiger mit der Überschätzung der Kompetenzen anderer einher. Du fühlst dich also gleich doppelt schlecht.

Side Tangent: Es gibt bislang meines Wissens keinen genauen Namen für diese Ausprägung des Impostor-Syndroms, weswegen ich Underplacement oder Underprecision vorschlage und zugebe, dass das tatsächlich nicht sehr präzis ist. 😅 Der Gedanke hinter meinem Versuch der Namensgebung: Overplacement und Overprecision beschreiben das Gegenteil von dem, was dich und mich plagt. Was mich direkt zum nächsten Punkt bringt …

Das Gegenteil vom Gefühl, nichts zu können, ist der sog. Dunning-Kruger-Effekt, der den Phänomenen Overplacement und Overprecision sehr nahesteht. Hierbei überschätzen Betroffene ihre eigene Sach- und/ oder Methodenkompetenz, was auch nur ein Fall kognitiver Verzerrung ist. Ich frage mich allerdings, wie viele Betroffene sich tatsächlich helfen lassen, wo sie doch gar nicht in der Lage sind, ihre eigene Inkompetenz zu erkennen. 😂
 

II. GRÜNDE FÜR SEIN AUFTRETEN

Vorab: Das Gefühl, nichts zu können, ist ein Zeichen von gesunder Metakognition und hohem Reflexionsgrad (genau das, was du benötigst, um überall im Leben erfolgreich zu sein). Für sein Auftreten kann es neben zu geringem Selbstvertrauen und damit einem unrealistischen Selbstbild noch einige weitere Gründe geben, von denen uns jedoch nur der Nächste wirklich zu interessieren braucht. Wie die folgende Abbildung zeigt, lassen sich die beiden Umstände nicht einfach in Ursache und Wirkung einteilen; sie bilden ein Wechselspiel.

Solltest du dir also in allen Pflichtfächern die gesetzlichen Grundstrukturen der zentralen Rechtsnormen angeeignet haben und zudem etwas mit den wichtigsten ungeregelten Instituten (etwa: Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter; Weigerungskompetenz des Bundespräsidenten; Erlaubnistatbestandsirrtum) anfangen können, bist du auf der sicheren Seite.

Unterschätzen smarte Menschen sich?

Ja. Paradoxerweise haben viele Menschen desto weniger Selbstvertrauen, je größer ihre Expertise in einem bestimmten Bereich ist. Expert*innen haben eine starke Metakognition mit Blick auf ihr Feld (sie wissen sozusagen, was sie nicht wissen) und sind in der Lage, Komplexitäten zu erkennen, die eine Person mit nur sehr begrenztem Wissensschatz übersehen würde. Infolgedessen neigen sie dazu, sich ihrer Wissenslücken und Schwächen eher bewusst zu sein.

 
III. RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN

Erst die schlechte, dann die gute Nachricht? Oder vielmehr: die guten Nachrichten. Das Gefühl, nichts zu können, bringt nämlich auch viel Gutes mit sich. Aber der Reihe nach. Beginnen wir mit einem nicht unbedeutenden Minuspunkt:

Du schiebst die Anmeldung zum Examen länger als nötig vor dir her und verpasst damit womöglich den idealen Zeitpunkt. Da könnte man dann wiederum die Frage aufwerfen, ob es den überhaupt gibt. Wie meine ich das?

In der Theorie läge der ideale Zeitpunkt für deine Examensanmeldung immer in der Zukunft. Mit jedem Wissenselement mehr, das du abrufbereit im Langzeitgedächtnis verankert, jedem Fall mehr, den du skizziert, und jeder Klausur mehr, die du ausformuliert hast, kommst du dem, was der Psychologe Anders Ericsson als Peak bezeichnet hat, einen Schritt näher. Allerdings löst eine langwierige und intensive Examensvorbereitung enormen mentalen und emotionalen Stress in uns aus. Der ideale Zeitpunkt zur Anmeldung lässt sich damit nur relativ mithilfe eines Venn-Diagramms beschreiben:

Nachdem wir den idealen Zeitpunkt zur Anmeldung in den Blick genommen haben, wenden wir uns nun einer Reihe positiver Nebeneffekte zu: Du ziehst öfter die richtigen Schlüsse, machst weniger vermeidbare Fehler und bringst zudem die Fähigkeit mit, dir beidem bewusst zu sein (das, was der Psychologe Jim Loehr als bewusste Bewusstheit bezeichnet). Es ist außerdem extrem unwahrscheinlich, dass du dich bei der Beurteilung deiner Sach- und Methodenkompetenz überschätzt, womit die Wahrscheinlichkeit, dass du besser abschneidest als erhofft, größer ist als jene, hinter deinen Erwartungen zurückzubleiben.

 
IV. HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN

Nachdem du realisiert hast, welche positiven Nebeneffekte das Ganze hat, fühlst du dich womöglich schon ein wenig besser. Wir können das Gefühl jedoch gezielt bekämpfen. Und nein, ich spreche ausdrücklich nicht von »mehr lernen, mehr Klausuren schreiben«. Du kennst mich doch. Hier sind insgesamt fünf Handlungsempfehlungen, die du in wahnsinnig kurzer Zeit umsetzen kannst. Sie beeinflussen deine Rahmenbedingungen und Gedanken und damit letztlich deine Gefühle. Und ja, ihre Wirksamkeit ist empirisch belegt.

1. Schau nicht so viel nach links und rechts. Schirme dich, wenn nötig, stärker ab, sodass du dich automatisch weniger mit anderen vergleichst (gilt auch und insbesondere für Social Media).

2. Lenke den Fokus augenblicklich weg von deinem Wissensstand. Mache, was du kannst, nie wieder davon abhängig, was du weißt. Sachkompetenz ist in Jura-Studium und Examen völlig überschätzt. Entscheidend sind und bleiben deine Arbeitsmethoden.

3. Hör auf, alles zu hinterfragen. Akzeptiere auch mal etwas blind.

4. Spiele Angel’s Advocate: »Warum liege ich falsch mit meiner Annahme, nichts zu können?«. Beginne eine Liste mit sämtlichen Gründen dafür und lass diese über einige Tage organisch wachsen.

5. Leg die Bücher weg. Hör auf, zu lernen. Je früher vor den Klausuren, desto besser. Das meine ich so, wie ich es sage. 

* Wenn du dich weiter einlesen möchtest, findest du ergänzende Informationen zu den verschiedenen Formen der Overconfidence Bias bei Psychology Today.

 


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